Sie sitzen auf einer Säule und spähen mit ihrem Fernglas über die Gartenhecke: Die schwarzen Kunststofffiguren des deutschen Künstlers Ottmar Hörl. Diese Weltanschauer zeigen schon von Weitem, dass hinter der grossen Hecke die Schöpfer von Bad RagARTz – Visionäre - leben. Ich parkiere mein Auto in der Einfahrt und erhasche einen Blick in die offene Garage. Diese ist voll mit Kartons, orangene Ausstellungsmagazine stapeln sich. Alles deutet darauf hin, dass Esther und Rolf Hohmeister viele Arbeiten für die Bad RagARTz selbst verrichten. Ich klingle und warte gespannt darauf, das mehrfach ausgezeichnete ältere Ehepaar endlich persönlich kennenzulernen. Rolf, in Anzugshose, weissem Hemd und Sneakers, öffnet mir mit einem breiten Lächeln die Tür und heisst mich herzlich willkommen. Esther, gekleidet in eleganten Grautönen, kommt gerade aus der Küche und bietet mir Kaffee an. Gemeinsam führen sie mich in ihren grossen Garten, der selbst eine kleine Skulptur-Ausstellung ist.
Die Bad RagARTz hat sich von einer kleinen privaten Ausstellung im Jahr 2000 zu einer international angesehenen Skulpturenausstellung entwickelt. Dieses Jahr findet die Schweizerische Triennale der Skulptur zum 8. Mal statt. Rund 80 Künstler aus fast 20 Ländern stellen über 400 Kunstwerke aus – insgesamt 2500 Tonnen Kunst. Während den fünf Ausstellungsmonaten werden rund 500 000 Besucher erwartet. „Habt ihr damit gerechnet, dass eure Kunstausstellung einmal so viel Aufsehen erregen wird?“, frage ich und zücke mein Notizbuch. Esther und Rolf sehen sich an und lachen: „Nein, definitiv nicht!“. Rolf ergänzt: „Als wir vor 20 Jahren alleine die Ausstellung organisierten, galten wir als zwei risikofreudige Spinner!“.
Die Skulpturenausstellung sei sowohl ein Geschenk an die Bevölkerung gewesen als auch ein Protest gegen die Behörden. „Viele haben geredet, aber niemand hat etwas gemacht, um dem veralteten Kurort Bad Ragaz neues Leben einzuhauchen. Darum haben wir das übernommen.“ Rolf, ein angesehener Arzt, war schon immer kunstinteressiert.“ Für mich ist Kunst ein Instrument, um Menschen Kultur beizubringen“, erklärt er. „Und ich bin gerne auf den Zug aufgesprungen“, ergänzt seine Frau Esther, Familienmutter und Poetin, „Der Durchbruch gelang uns bereits bei der dritten Ausstellung, als das Grand Resort uns seine Unterstützung zusicherte. Seither unterstützen uns immer mehr Organisationen.“ Rolf fügt mit ernsterer Mine hinzu: „Tatsächlich dürfte aber der Beitrag und das Interesse aus der Region selbst höher ausfallen.“
Ich stelle die nächste Frage in meinem Notizheft: „Habt ihr eine Lieblingsfigur?“. Esther lacht: „Das fragen uns alle!“. Wir haben 450 Lieblingsskulpturen“, scherzt Rolf, „wenn ich mich jetzt aber auf eine beschränken müsste, dann der optimistische Gartenzwerg – der kommt uns am nächsten.“ Rolf zeigt auf eine kleine orangefarbene Plastikfigur, die den Ok-Daumen zeigt und in einem durchsichtigen Plastiksack mitten im Garten steht. Esther scheint meine Fragezeichen im Kopf lesen zu können: „Die Figur stammt von Ottmar Hörl. Er hat uns die Figur in Plastik verpackt vorbeigebracht – als Symbol dafür, dass sich die Schweiz mit der Ablehnung des EU-Rahmenabkommens selbst abgeschottet hat.“ Ich hatte schon viel davon gelesen, dass Esther und Rolf die Künstler persönlich kennen und einige von ihnen sogar zur Familie zählen, Ottmar Hörl scheint dazuzugehören.
„Was hat es mit diesem Gartenzwerg auf sich?“ frage ich. Rolf erzählt, dass sie 50 solcher Zwerge in Bad Ragaz ausgesetzt haben, um den Passanten eine Freude zu machen und auf die Kunstausstellung aufmerksam zu machen. Später lese ich im orangen Ausstellungsmagazin nach, dass die Gartenzwerge als „Hörlsches Erfolgsmodell“ gerade die Welt erobern. So wird der Künstler im Magazin folgendermassen zitiert: „Menschen würden sich nie mit einem Gartenzwerg identifizieren. Aus dieser Distanz heraus wird er zu einer Art Stellvertreter in der Gesellschaft. Er kommt einem tatsächlich nie zu nahe. Deshalb kann man ihn auch als agierender Stellvertreter für etwas akzeptieren. Der Zwerg funktioniert als Mittler, wir werden daran erinnert, dass diese Gesten doch auch eine inhaltliche Verbindung zu uns haben.“
Distanz spielt eine grosse Rolle an der 8. Schweizerischen Triennale der Skulptur in Bad Ragaz. Das Motto lautet nämlich „Distanz schärft den Blick“. „Hat euch die aktuelle Corona-Pandemie zu diesem Motto inspiriert?“, frage ich. „Nein, auch wenn man es kaum glaubt: wir haben das Motto schon 2019 vor Corona festgelegt“, erwidert Esther, „Wie passend das Motto aber wirklich ist, hat sich dann während der Pandemie herausgestellt“. „Habt ihr euch eigentlich nie überlegt, die Bad RagARTz wegen der Corona-Massnahmen abzusagen?“ „Nein, wir waren uns schon ziemlich früh sicher, dass wir die Bad RagARTz als Ausstellung trotz Pandemie durchführen“, sagt Rolf, „Klar, kommt uns entgegen, dass die Kunstwerke im Freien stehen. Aber auch so hätten wir uns bemüht, die Veranstaltung durchführen zu können – alleine schon wegen der vielen Kunstschaffenden, die wegen Corona so viel Einbussen hatten.“ Esther ergänzt: „Wir haben die Ausstellung aber auch für uns und alle anderen realisiert, die Sehnsucht nach Freiheit verspüren und endlich einmal wieder etwas Tolles erleben wollen – natürlich immer unter der Einhaltung der Schutzmassnahmen.“
In diesem Moment klingelt das Telefon. Esther entschuldigt sich und geht ins Haus, um zu telefonieren. Ich hake in der Zwischenzeit bei Rolf nach, was das Motto genau bedeutet. Er antwortet: „Ich vergleiche Distanz gerne mit menschlichem Respekt. Wer Distanz wahrt, kann Nähe schaffen. So ist es auch in der Kunst. Skulpturen wirken oftmals besser aus einer gewissen Entfernung, wecken ein anders Gefühl, berühren anders“. Kaum hat mir Rolf die Frage beantwortet, steht Esther strahlend im Rahmen der Terassentür. „Ich habe soeben eine Skulptur verkauft“, erzählt sie freudig. „Welche?“, frage ich neugierig. „Der Tropfen aus Marmor vom deutschen Künstler Reiner Seliger“, erwidert Esther, „Du wirst ihn gleich bei der Rundfahrt mit Rolf sehen.
Der Piaggio, mit dem Familie Hohmeister normalerweise solche exklusiven Rundtouren anbieten, ist leider gerade im Service. Rolf fährt mich darum mit seinem Auto zum Grand Resort Bad Ragaz. Dort hat er einen Golfwagen bestellt, um die Ausstellung zu besichtigen. Während wir auf den Schlüssel warten, zeigt Rolf auf das Dach des Grand Resorts. Dort liegt eine überdimensionale Glühbirne aus Edelstahl und Plexiglas von der deutschen Künstlerin Lydia Oermann. Mitten im Vorhof steht eine alte Holzleiter vom italienischen Künstler Ivan Lardschneider, die ins Nichts führt. „Beides soll zum Denken anregen, zeigen, wie gut es uns hier geht“, erklärt Rolf und nimmt den Schlüssel dankend vom Portière entgegen. Wir steigen ein und fahren zum Vorhof des Grand-Resorts, wo auf der grossen Wiese eine Vielzahl an verschiedenster Kunstobjekte steht. Rolf schwärmt: „Natur und Landschaft sind die Geschwister von Kunst, wie schön sie hier vereint sind.“
Es ist ein Werktag, das Thermometer kratzt an der 30-Grad-Marke. Trotzdem schlendern zahlreiche Besucher – Einzelpersonen, Gruppen, Familien – durch die dichte Ansammlung an Kunstwerken. Mittendrin Rolf und ich in unserem „Art Mobil“. Wir fahren unter anderem vorbei an den beiden Strandläuferinnen aus Beton der deutschen Künstlerin Christel Lechner, an riesigen Büchertürmern aus Holz des Schweizer Künstlers Daniel Eggli und an den Pinball-Gesichtern aus Aluminium des spanischen Künstler Samuel Salcedo. Bei einer Ansammlung von Kugeln aus Fiberglas des Schweizer Künstlers Pius Morger hält Rolf an. Wir steigen aus und Rolf fordert mich auf, genau hinzuhören. Die Kugeln geben die unterschiedlichsten Geräusche von sich. Ich höre Geschirr klirren, Erwachsene sprechen, Kindergeschrei, Vögel zwitschern? Alles zusammen. Rolf erklärt: „Dieser sogenannte "Klang Garten“ gibt die Geräusche von 24 Stunden Alltag wieder“. Ich bin fasziniert.
Wir steigen ein und fahren weiter an den verschiedensten Kunstwerken vorbei. Wir sehen den „Ragazer Regenbogen“ (Kathrin Severin, CH), einen Elefanten aus Fiberglas und Metall, der mithilfe einer Seilvorrichtung von einem Mädchen namens Marta angehoben wird (Stefano Bombardieri, I), einen begehbaren Kubus aus Draht (Werner Bitzigeio, D). „Ich liebe es, wenn Kunstobjekte begehbar sind, so erhalten auch Kinder einen ganz anderen Zugang zu Kunst“, schwärmt Rolf. Dass aber auch Erwachsene sichtlich Spass daran haben, Kunst anzufassen, Kunst zu „erleben“ und nicht nur zu betrachten, zeigt die Installation der Schweizer Künstlerin Franziska John: An Holzwänden befinden sich Gesichter, die verschiedene Grimassen ziehen. Dazwischen leere Löcher, in denen die Besucher reihenweise ihre Köpfe durchstecken und sich von ihren Begleitpersonen fotografieren lassen. Eine Menschenmenge bildet sich auch vor der nächsten Skulptur. Verschieden farbig angeordnete Holzklötze erscheinen aus der Ferne als Frauengesicht – ebenfalls ein sehr schönes Beispiel dafür, wie Distanz den Blick schärt. Rolf erzählt mir beim Vorbeifahren stolz, dass das „seine“ Carla ist. Das Kunstwerk heisse „Gesichtspunkt“ und stamme von seiner Tochter Carla, die selbst Künstlerin sei.
Während viele Bedeutungen der Werke schwierig sind in nur ein, zwei Sätzen zu erklären, ist die Botschaft gewisser Kunstwerke klar: Grosse zerdrückte Wasserflaschen, nachgestellt aus verschiedenen Materialien („Jack“ Giacomo Braglia I, Veronika Dierauer, CH) sowie ein echter roter VW-Golf 4 im Abfallkorb aus Stahl (Ottmar Hörl, D) machen eindeutig auf das Thema Littering und Umweltverschmutzung aufmerksam. Die imposanten Affenmenschen (Liu Ruowang, CN), die am Ende des Grand-Resorts-Vorhofs, direkt an der Hauptstrasse stehen, symbolisieren die Erbsünde. Bevor wir die Strasse wechseln und Richtung Giessenpark fahren, wirft Rolf noch einen kurzen Blick zurück und zeigt mir den grossen „Tropfen“ aus Marmor, den seine Frau am Nachmittag verkauft hatte. In Gedanken frage ich mich, wo wohl sein neues Plätzchen stehen wird.
Beim Überqueren des Bürgersteigs ruckelt der Golfwagen stark und mein Bleistift, mit dem ich fleissig versucht habe, alles aufzuschreiben, was mir Rolf erzählt, fällt auf die Strasse und wird vom nächsten Auto überfahren. Ich nehme das als Zeichen, um mein Notizbuch wegzulegen, mich zurückzulehnen und die Kunst einfach einmal auf mich wirken zu lassen. Während wir am Giessensee entlangfahren, lausche ich entspannt Rolfs Erzählungen über den Stahlblumenpark (Herbert Mehler, D) und die roten Treppen (Maboart, CH) in der Wiese, die an das legendäre Gedicht des einzigen Schweizer Literaturnobelpreisträgers Carl Spitteler erinnern. Selbst im Giessensee liegen verschiedene Kunstobjekte, zu sehen sind unter anderem ein Floss mit Hasen und Meerjungfrau der Schweizer Künstlerin Christina Wendt.
Weitere Skulpturen von Bad RagARTz stehen im Zentrum der Gemeinde Bad Ragaz sowie erstmals in der Geschichte der Ausstellung auch im idyllisch gelegen Valens im Taminatal. Meine Rundtour mit Rolf Hohmeister endet aber am Ende des Giessenparks. Nach 1.5 Stunden Exklusiv-Interview muss Rolf zurück in seine Arztpraxis. Wir geben unser „Art-Mobil“ im Grand Resort ab und fahren zurück zum Haus der Schöpfer, wo mein Auto parkiert ist. Ich bedanke mich herzlich für das eindrückliche Erlebnis und fahre winkend aus der Einfahrt – im Rückspiegel die drei Weltanschauer, die mir mit ihren Feldstechern nachsehen.
Die Bad RagARTz findet seit dem Jahr 2000 alle drei Jahre statt. Die Kosten belaufen sich pro Durchführung auf rund 2.5 Millionen Franken, welche die Initianten – Esther und Rolf Hohmeister – grösstenteils selbst finanzieren, unter anderem mit dem Verkauf von Kunstwerken, Katalogen und Merchandising-Produkte. Die Kunstausstellung wird zudem finanziell unterstützt von Kulturorganisationen, Sponsoren und Gönnern. Auch das regionale Gewerbe und die Gemeinde beteiligen sich mit Beiträgen. Der Eintritt selbst ist kostenlos. Die Kunst ist frei zugänglich für alle. Eine Analyse der Fachhochschule Graubünden zeigt, dass die letzte Durchführung der Bad RagARTZ im Jahr 2018 über 8 Millionen Franken zusätzliche Wertschöpfung in Bad Ragaz und der Region Sarganserland generierte. Der Grossteil macht dabei die Ausgaben der Besucher der Kunstausstellung aus: Während ihres Aufenthalts in Bad Ragaz übernachten sie in Hotels, essen in Restaurants und kaufen in lokalen Geschäften ein. Auch andere Branchen profitieren von der Bad RagARTz, zum Beispiel wegen des Transports der Kulturobjekte.
Die Bad RagARTz hat neben dieser Wertschöpfung aber auch andere wichtige Effekte in der Wirtschaft in der Region Sarganserland-Werdenberg. Das sind etwa touristische, soziokulturelle, politische und bildende Effekt, wie «Die Volkswirtschaft*» schreibt, das Magazin von Staatssekretariat für Wirtschaft SECO und dem eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung. Vor und während der Ausstellung berichten regionale, aber auch nationale und internationale Medien über die Schweizerische Triennale der Skulptur, das fördert die Bekanntheit von Bad Ragaz und der ganzen Region. Die lockt aber nicht nur Touristen an, sondern schafft ein zusätzliches Freizeit- und Erlebnisangebot für alle Einheimischen. Mit den speziellen Angeboten für Kinder- und Jugendliche wird zudem das Verständnis für Kunst, Kultur und aktuelle Gesellschaftsprobleme gefördert. Um es kurz mit den Worten der «Volkswirtschaft» zusammenzufassen: «Bad RagARTz ist ein erfolgreiches Leuchtturmprojekt.»
Quelle: Die Volkswirtschaft
Ausstellung: 8. Mai bis 31. Oktober 2021
Durchführung: Alle drei Jahre, seit 2000
Initianten: Esther und Rolf Hohmeister
Motto: Distanz schärft den Blick
Teilnehmer: rund 80 Kunstschaffende aus fast 20 Ländern
Künstler aus der Region Sarganserland-Werdenberg: Hohmeister Carla, René Düsel, Daniel Eggli, Thomann Hans, John Franziska, Knapp Sonja und Angelika Steiger (FL)
Kunst: 400 Objekte, 2500 Tonnen Kunst
Besucher: 500 000
Kosten: 2.5 Millionen Franken
Eintritt: gratis
Auszeichnungen: Kulturpreis der St. Gallischen Kulturstiftung, Kulturpreis der Talgemeinschaft Sarganserland-Walensee, Bernhard Simon Medaille der Orstgemeinde Bad Ragaz
Wertschöpfung: rund 8 Millionen Franken in Bad Ragaz und Sarganserland
Angebote: für jeden zugängliche Kunst unter freiem Himmel, diverse Kunstführungen für Erwachsene und Kinder, DorfART, Festival der Kleinskulpturen
Alle Informationen über die Bad RagARTz findest du hier.